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Stefanie Müller

Diffusionen

Licht flutet aus diesen Fotografien. Die blaue Helligkeit von Tageslicht strömt dem Betrachter entgegen, suggeriert Tiefe, Weite – Raum und Fläche zugleich, in der die Töne changieren, flimmern, verschwimmen. Aus dieser Woge von Helligkeit tauchen Inseln dunkler Flächen auf. Schatten. Formen – die organisch, die anthropomorph anmuten, die das Auge nicht ruhen lassen, das unentwegt und rastlos sucht, forscht – das eifrig versucht sie zu erfassen. Doch lange entziehen sie sich der Identifikation, erscheinen nur schemenhaft aus der Überfülle, der Opulenz des Gegenlichts.

Die organischen Schemen verdichten sich aber zunehmend zu vagen und doch benennbaren Formen. Man vermeint Fußsohlen zu erkennen, Füße – Spuren menschlicher Passanten, die in entfernter Höhe über einen hinwegzuschreiten scheinen?

Tatsächlich zeigen die Fotografien des in Augsburg lebenden Künstlers Michael Baumgartner Besucher des Apple Store der Fifth Avenue in New York. Die Aufnahmen entstanden im ersten Untergeschoss des Gebäudes, von wo aus er senkrecht nach oben, durch den gläsernen Boden hindurch in die obere Etage fotografierte.

Ausgangspunkt, Inspiration und eigentlicher Betrachtungsgegenstand dieser Serie ist demnach ungeachtet allem semi-abstrakten oder gegenstandslosem Anschein – der Mensch.

Die Arbeiten der Serie „Fading, New York“ kennzeichnen sich vorrangig durch die Eigenheiten des ungewöhnlichen Blickwinkels, ihrer subtilen Farbigkeit, des kontrastreichen Spiels von Licht und Schatten, sowie der konstitutiven Unschärfe.

Die anfängliche Irritation der Wahrnehmung ist in erster Linie bedingt durch die ungewohnte Perspektive, aus der die Fotografien aufgenommen wurden.

Diese kühne Finesse, das Motiv, nämlich die Passanten von unten zu bannen, verunsichert – nicht nur die gewohnte Sehweise, sondern überdies die Orientierung. Das Ordnungsprinzip von Oben und Unten scheint kurzfristig nicht mehr zu greifen, zu funktionieren. Bisher verlässliche Grundprinzipien des Sehens und Erfassens scheinen erschüttert und bieten keinen perzeptiven Halt mehr.

Die Verunsicherung rüttelt das Bewusstsein wach, rüttelt an den eingespielten Sehgewohnheiten und schärft infolgedessen die Aufmerksamkeit für die eigene Erfahrung. Das visuelle Begreifen wird aktiviert, die Wahrnehmungsfähigkeit, die Phantasie angeregt und eine psychologische Intensivierung der Wahrnehmung ausgelöst.

Das Außerordentliche der Perspektive wird initial durch die örtlichen Bedingungen ermöglicht. Der gläserne Boden des Erdgeschosses im Apple Store der Fifth Avenue lässt den spektakulären Blick nach oben, durch die Decke erst zu.

Das Material Glas negiert mittels seiner Durchsichtigkeit, seiner Leichtigkeit die Präsenz der Materialität, die Dichte von Materie. Als würde der Boden nichtig werden, gar nicht existieren, scheinen die Passanten zu schweben, jeglicher Gravitation enthoben, schwerelos, als könnten sie sich barrierelos vollkommen frei im Raum bewegen.

Die Ausschnitte der Fotografien sind so gewählt, dass jegliche Andeutung von räumlicher Begrenzung fehlt. Keine Wände, Mauern oder Absperrungen stören das Entfalten einer immensen Weite. Solchermaßen wird hier eine imposante Ausdehnung und Öffnung des Raumes fingiert.

Doch betrifft dies nicht nur eine Ausweitung der räumlichen Dimension, sondern auch der menschlichen. Während die Füße, die Schuhsohlen der Besucher noch deutlich dunkel und stofflich erscheinen, sind die Beine, Körper oder gar Köpfe kaum noch, beziehungsweise gar nicht mehr fassbar.

Bildnerisch bedingt durch die Unschärfe, das Überstrahlen des Gegenlichts und die zunehmende Entfernung nach oben, respektive in die Bildtiefe, verwischen die Umrisslinien, verblassen die Konturen und die Figuren verschwinden.

Hier und da deutet eine subtile Farbigkeit noch Kleidung, Taschen oder andere Details von Garderobe an, doch wahrlich nur noch mutmaßlich und anscheinend. In sanften Schattierungen, höchst differenziert und doch indifferent zeigt sich die Farbigkeit in den Fotografien nur als Hauch, als zarter Schleier, kaum erahnt, schon fast verflüchtigt, in feiner Nuancierung. Dieser zarten, vagen Farbigkeit entsprechend scheint sich desgleichen die Prägnanz, die Eindeutigkeit der menschlichen Form aufzulösen. Im Tageslicht, aufsteigend, der Höhe entgegen, verschmelzen die Figuren dort mit der Helligkeit und überwinden die äußeren Formgrenzen. Stehen sie noch mit beiden Füßen körperhaft auf dem gläsernen Boden, entgrenzen, verflüchtigen sie sich mit zunehmender Bildtiefe.

Dominiert werden die Fotografien der Serie „Fading, New York“ aber zunächst durch Licht und Schatten. Sie bestimmen die Bildaufteilung und machen die Aufnahmen für den anfänglichen Blick greifbar. Die Hell-Dunkel-Verteilung bildet das erste Augenmerk, den ersten Anhaltspunkt für die Betrachtung bevor sich einem die Feinheiten offenbaren. Sie ist entscheidend für den Bildaufbau, die Komposition der jeweiligen Werke, deren Gliederung und Rhythmus.

In einigen Fällen wirken die dominierenden, dunklen Schatten wie gestische Pinselstriche abstrakter Malerei. Unterstützt wird dieser anfängliche Anschein durch ihre schemenhafte Erscheinung. Die Umrisse sind diffus, verschwimmen. Wie in der Aquarellmalerei die Farbe in der Feuchtigkeit des Papiers zerläuft, scheinen auch hier die Konturen zu zerfließen.

Die Ursache dieses Eindrucks ist die bildbestimmende Unschärfe der Fotografien. Durch sie erfolgt die malerische Auflösung der Details in sinnliche Farb-, beziehungsweise Hell-Dunkel-Verläufe. Die Übergänge werden entschärft, harte Konturen aufgelöst, sind nur noch vage, unbestimmt und flüchtig.

Das fotografierte Sujet ist nicht exakt scharf gestellt, nicht in jeder Feinheit und Detailtreue festgehalten, die Fokussierung ist hier vielmehr bewusst leicht verschoben. Der Künstler setzt das sogenannte bildnerische Mittel des „Out of Focus“ methodisch und dezidiert ein, um eine ausdrückliche Wirkung zu erzielen.

Die Motive, Flächen und Linien befinden sich in einer Art Oszillation, sie scheinen zu vibrieren, zu fließen. Wahrnehmbar und existent, doch scheinbar verwischt, weichgezeichnet. Durch den Nebel der Verschleierung wanken sie zwischen Ent- und Begrenzung, sind vorhanden, doch vage und uneindeutig.

Die Unschärfe schafft eine fortwährende Flüchtigkeit der Erscheinung. Entgegen jener ureigenen Eigenschaft von Bildern – ihrer Unabänderlichkeit, ihrer Beständigkeit, ihres statischen Bestandes – scheint sich hier das Motiv zeitweilig zu offenbaren, greifbar zu werden, nur um sich dann wieder im Nebel der Unbestimmtheit, der Ungewissheit zu verbergen. Die Unschärfe irritiert die Wahrnehmung und suggeriert auf subtile Weise ein Oszillieren, ein Pulsieren des eigentlich gebannten, fixierten Motivs. Dem Künstler gelingt, über den bestimmbaren Bildgegenstand hinaus, etwas Unbeständiges, Vages, etwas nicht Feststehendes zu bannen und eben diesen Antagonismus zu verbildlichen.

Das unscharfe Bild, in seiner Gegenständlichkeit partiell aufgelöst, verfügt über einen gewissen Grad an Abstraktion. Es kann zum einen als strukturierte Fläche wahrgenommen werden, zum anderen ist ihm der Gegenstandsbezug dennoch zu eigen. Es changiert zwischen abstrakter und gegenständlicher Bildwelt.

Zugunsten der Verschleierung einer Gewissheit verliert die Fotografie an Deutlichkeit, an Informationsgehalt.

Hier streiten unmissverständliches Abbild versus Aussageverweigerung um die Vorherrschaft, halten sich die Waage, bilden schließlich eine fragile Synthese und erreichen einen Schwebezustand zwischen Erscheinen und Verschwinden.

Letztlich gewährt die Unschärfe dem Betrachter die Freiheit zwischen dem Wunsch nach konkretem Erkennen und gleichzeitig der Lust an freier Assoziation. Abgesehen vom Suchen und dem endlichen Erkennen des Gezeigten, wird daher der Betrachter in fast meditativer Weise zu sich selbst und den eigenen Gedanken zurückgeführt. Die Undurchdringlichkeit der Darstellung wird Gegenstand der Vorstellung, der Phantasie und somit der Selbstspiegelung.

Der Nebel der Verschwommenheit unterstreicht die ohnehin durch die Wahl des Bildausschnitts, der eingeschränkten Farbigkeit, sowie der Konzentration des Bildinhalts auf wenige, doch dominante Aspekte hervorgerufene Reduktion. Diese ist in allen Werken der Serie bildbestimmend und von relevanter Bedeutung für die Wirkung und Atmosphäre der Fotografien.

Entlastet von allem Unnötigen und aufgeblähter Ausschmückung, legt sich überdies mit der Unschärfe ein besänftigender, weichzeichnender Schleier über das Dargestellte, der eine Beruhigung, eine nahezu verinnerlichte Stille evoziert.

Diese Stille steht im drastischen Gegensatz zum eigentlichen Motiv. Der Apple Store ist ein Publikumsmagnet, der rund um die Uhr eine Vielzahl von Menschen anzieht, in dem ständig rege Betriebsamkeit, eine unermüdliche Geschäftigkeit herrscht. Nichtsdestoweniger schafft der Künstler in diesen Fotografien mit den soeben beschriebenen Mitteln eine spannungsreiche Gegenüberstellung von städtischer Belebtheit und kontemplativer Ruhe.

Stefanie Müller